Gewaltfreie Umstürze brauchen Disziplin, Geduld und Opferbereitschaft. Noch ist die gewaltfreie Revolution in der Ukraine nicht gescheitert.
Fröhlich macht die ukrainische Version des „Happy“-Videos nicht. Auch am Maidan in Kiew wurde Anfang des Jahres ein Video gedreht, in dem Menschen zur Musik des Liedes „Happy“ des US-Künstlers Pharrell Williams tanzen. Nach internationalem Vorbild: in vielen Städten der Welt wurden Clips gedreht.
Während die meisten anderen Videos richtig ansteckend mit ihrer guten Laune und der positiven Energie sind, macht vor allem die zweite Hälfte der Kiew-Version eher nachdenklich und traurig: Man sieht erschöpfte Protestierende in ihrem improvisierten Camp, Vermummte in Tarnfarben mit Baseball-Schlägern und schusssicheren Westen, Barrikaden wie in einem Krieg sowie Menschen, die den Opfern nachtrauern.
Rückblick ins Jahr 2004: Die ukrainische Revolution von vor zehn Jahren gilt bis heute als ein Vorbild für einen gewaltfreien Umbruch. Nach Präsidentschaftswahlen, die nach offiziellen Angaben Viktor Janukowitsch gewann, orteten Opposition und Teile der Bevölkerung Wahlbetrug. Wochenlang demonstrierten tausende Menschen. Mit Erfolg: Die Wahl wurde für ungültig befunden. Es kam zu einer Wiederholung, Viktor Juschtschenko, ein Vertreter der Opposition, gewann. Die „Orange Revolution“ hatte gesiegt, mit friedlichen Mitteln.
Und zehn Jahre später? Nach turbulenten Jahren in der ukrainischen Politik war Juschtschenkos Stern 2010 verblasst. Bei Präsidentschaftswahlen vor vier Jahren setzte sich Janukowitsch in der Stichwahl gegen Julija Tymoschenko durch. Nachdem Janukowitsch im Herbst 2013 das EU-Assoziierungsabkommen nicht unterschrieb, gingen die Massen wieder auf die Straße. Im Februar wurde Janukowitsch gestürzt.
In der finalen Phase der Proteste kam es dabei zu Gewalt, in erster Linie von der Seite der Exekutive, aber auch von der Protestbewegung. Ab dem 18. Februar 2014 eskalierte die Situation. Bürgerkriegsähnliche Zustände forderten über 80 Todesopfer. Ist die gewaltfreie Revolution in der Ukraine gescheitert?
Susan Stewart sieht trotz allem Parallelen zwischen 2004 und 2014. Die Wissenschaftlerin ist Ukraine-Expertin bei der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik. Ähnlichkeiten gäbe es etwa bei den Motiven für die Revolutionen. Zwar seien es zwei unterschiedliche Auslöser gewesen – 2004 die Präsidentschaftswahl, 2013/2014 das Aussetzen des EU-Assoziierungsabkommens. „Aber in beiden Fällen waren die Proteste Reaktionen auf die korrupte Führung im Land“, betont Stewart gegenüber dem Südwind-Magazin. Zur unterschiedlichen Entwicklung der Bewegungen sagt sie: „Das Element der Gewalt ist 2014 hauptsächlich deswegen gekommen, da das Regime entschieden hat, Gewalt einzusetzen.“ Es sei schwer zu sagen, ob es möglich gewesen wäre, nach dem Vorgehen der Regierung von Janukowitsch friedlich zu bleiben.
Die Bewegung habe zudem zugelassen, dass auch teils problematische Gruppierungen, etwa der rechtsextreme paramilitärische Prawyj Sektor, dazu stoßen. Ein Grund dafür könnte sein, mutmaßt Stewart, dass viele Protestierende den größeren Oppositionsparteien wie Vitali Klitschkos UDAR und der Partei „Vaterland“ von Julija Tymoschenko nicht zutrauten, einen Sturz Janukowitschs herbeiführen zu können.
Die Maidan-Bewegung in Kiew sei jedenfalls „durchorganisiert“, so Stewart. Neben Menschen, die neu dazu gekommen seien, wären VeteranInnen von 2004 dabei gewesen, die schon Erfahrung mitbrachten.
Die Brüder Arman und Arash Riahi, österreichische Filmemacher mit iranischen Wurzeln, dokumentierten mehrere Protest-Bewegungen der vergangenen Jahre. Ihr Film „Everday Rebellion“, der im Frühling in die heimischen Kinos kam, ist eine Hommage an jene Menschen von Manhatten bis nach Teheran, die etwas verändern wollen. Und an all die kreativen Formen von Protest – von der klassischen Demo über Sit-ins bis hin zu Performances von Protest-Chören, -Theatern und -Clowns.
Es ist ein Film zu einem globalen Trend: Er begleitet die „Occupy Wallstreet“-Bewegung in New York, die Revolution in Ägypten und Femen-Aktionen in der Ukraine. Zudem blickt er zurück auf die „grüne Bewegung“ im Iran und thematisiert auch andere Proteste wie etwa jene in Istanbul im Sommer 2013.
Was deutlich wird: Jeder gewaltfreie Widerstand, so kreativ er auch sein mag, muss organisiert und strukturiert sein, um Erfolg haben zu können. „Gewaltlose Disziplin ist ein Schlüssel zum Erfolg, sie muss trotz aller Provokationen und Brutalitäten von Seiten der Diktatoren und ihrer Anhänger gewahrt werden“, schreibt Gene Sharp in „Von der Diktatur zur Demokratie – ein Leitfaden für die Befreiung“. Die Ideen und Schriften des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers haben viele Bewegungen beeinflusst. Er wird gar – schmeichelhaft oder nicht – „Machiavelli des gewaltlosen Widerstands“ genannt. Der Right Livelihood Award, der „Alternative Nobelpreis“, ging 2012 an Sharp. Auch für den Friedensnobelpreis war er bereits im Gespräch.
Otpor!, jene Organisation, die 2001 in Serbien mitwirkte, Slobodan Milošević zu stürzen, nahm etwa Anleihen bei Sharp. In den folgenden Jahren waren es Otpor!-Mitglieder selbst, die Tipps, Tricks und Strategien an Bewegungen weitergaben. Srdja Popović ist mittlerweile so etwas wie der Popstar des gewaltfreien Protests. Der Serbe gründete gemeinsam mit einem Otpor!-Partner das Zentrum für angewandte gewaltlose Aktion und Strategien (CANVAS). Ob Ukraine, Georgien oder Ägypten – kaum ein Versuch, ein Regime zu stürzen, bei dem die Namen, aber vor allem die Methoden von Sharp und Popović nicht auftauchen. Ihre Strategien haben dabei nicht einzelne Situationen, sondern das übergeordnete Ziel der Bewegung im Blick: Bleibt eine Demonstration etwa friedlich, aber die Polizei setzt Gewalt ein, kann sich das mitunter negativ für das herrschende Regime auswirken. Im Gegenzug kommen in einer breiteren Öffentlichkeit gewalttätige Demos gar nicht gut an und können der Bewegung die Unterstützung in der Bevölkerung entziehen.
Sichtbarkeit ist wichtig: Die Bewegungen definieren ein einheitliches Symbol mit Wiedererkennungswert – etwa eine Farbe oder eine Blume. Eine Revolution muss sich ein Stück weit auch vermarkten. Durch Graffitis mit Botschaften, Flugblätter oder beschriftete Tischtennisbälle, die auf die Straße geworfen werden, kann eine noch kleine Gruppe versuchen, mehr Leute für die Sache zu gewinnen.
Kann dabei immer verhindert werden, dass es doch zu Gewalt kommt? Was, wenn, wie etwa im Fall der Ukraine im Februar, das Regime doch zu den Waffen greift? Die Geschichte zeige, so schreibt Sharp, dass „Verluste in Form von Toten und Verletzten einzukalkulieren sind“. Diese würden allerdings „deutlich geringer ausfallen als bei einer militärischen Auseinandersetzung“, so Sharp in „Von der Diktatur zur Demokratie“.
Das Konzept des gewaltfreien Widerstandes und des gewaltfreien Umsturzes gibt es nicht erst seit Sharp, Popović und den Bewegungen der vergangenen zehn bis 15 Jahre. Es haben wohl schon seit jeher Menschen gewaltfrei gegen Unterdrückung oder Unrecht protestiert. Eine Persönlichkeit, die viele Bewegungen zu seiner Zeit, aber auch danach inspirierte, war Mahatma Gandhi. Seine Satyagraha-Strategie erfordert ebenso Disziplin und Gehorsam. Und zwar basierend auf Freiwilligkeit und Überzeugung. Satyagraha ist eine Wortkreation, die „an der Wahrheit festhalten“ bzw. im übertragenen Sinn „Kraft der Wahrheit“ bedeutet. Es geht dabei darum, mittels Gewaltlosigkeit den Gegner auf die eigene Seite zu bringen. Wer Satyagraha anwendet, muss dabei auch immer Schmerz auf sich nehmen können.
In Lateinamerika bildete sich in der Zeit des Kalten Krieges eine besondere Ausprägung gewaltfreien Widerstandes. Die Befreiungstheologie wollte einen gewaltlosen und reformistischen Weg zwischen dem liberal-kapitalistischen und dem marxistischen Gesellschaftssystem gehen. 1968, auf einer Konferenz in Medellín, Kolumbien, definierten die lateinamerikanischen Bischöfe die Kirche als eine Institution, die sich gegen eine Sozialordnung wenden soll, die auf Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Unterdrückung gründet. Die Befreiungstheologie wandte sich nicht zuletzt gegen Militärdiktaturen in Lateinamerika.
Eine Ikone der Befreiungstheologie ist Óscar Romero. Und er ist gleichzeitig ihr Märtyrer: Der katholische Erzbischof aus El Salvador setzte sich in den 1970er Jahren für soziale Gerechtigkeit und gegen die Militärdiktatur in seinem Land ein. 1980 wurde er während einer Predigt von einem Scharfschützen ermordet.
Der deutsche Theologe Martin Maier ist ein Experte auf dem Gebiet der Befreiungstheologie. Er betont gegenüber dem Südwind-Magazin, dass die Beschlüsse der Bischöfe in Medellín „Leitlinien, aber nicht bindend“ seien. Das damals beschlossene Prinzip, sich gegen eine ungerechte Ordnung zu wenden, sei dabei nicht per se auf Lateinamerika beschränkt. Der Einfluss der Befreiungstheologen auf die ganze Kirche sei da.
Der Vatikan geht seit Jahrzehnten immer wieder gegen Befreiungstheologen vor. Kommt mit Papst Franziskus ein neuer Zugang? Theologe Maier weist daraufhin, dass Franziskus selbst aus Lateinamerika kommt und zudem von der argentinischen Befreiungstheologie geprägt sei. Ob es zu einem direkten Einfluss der Richtung auf Rom kommt, könne man derzeit noch nicht sagen. Immerhin sende Franziskus Signale, die zeigen, dass er als Papst der Befreiungstheologie gegenüber offen ist.
Kann die Kirche auch in aktuellen Bewegungen eine Rolle spielen? Maier bejaht. Dass sich Geistliche etwa Bewegungen wie Occupy anschließen, ist für ihn durchaus denkbar. „Es gibt eine Wirtschaft, die tötet. Etwa, wenn der Reichtum eines Landes auf wenige beschränkt wird und der Rest im Elend lebt – das ist Gewalt“, so Maier. Die Kirche selbst müsse dabei aber immer den Weg gehen, Konflikte gewaltfrei zu lösen.
Gewaltfreie Umbrüche können funktionieren, ist sich Thomas Roithner sicher. Er ist Friedensforscher am Österreichischen Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung Schlaining (siehe auch Interview auf Seite 15). Als Beispiele dafür nennt er den Umsturz auf den Philippinen 1986, Südafrika auf dem Weg aus der Apartheid oder auch osteuropäische Staaten nach 1989.
Kriterien, die eine gewaltfreie Bewegung erfüllen muss, um Erfolg zu haben, lassen sich laut Roithner nicht ausmachen. Jede gewaltfreie Bewegung habe ihre ganz eigenen Herausforderungen und Rahmenbedingungen, hier könne man nicht generalisieren.
Im Fall der Ukraine glaubt Politikwissenschaftlerin und Ukraine-Expertin Stewart, dass die Geschichte für die Protestierenden auf dem Kiewer Maidan sprechen könnte: „Die entscheidende Frage ist, ob sie das System ändern konnten.“ Für eine Analyse dazu sei es allerdings noch zu früh, nicht zuletzt wegen der andauernden Krise zwischen der Ukraine und Russland. Um definitiv zu wissen, ob die gewaltfreie Protestbewegung, die 2004 begann, eine erfolgreiche sein wird, könne man nur eines machen: abwarten.
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